Krone 29. Mai 2016

Der beschämte Mensch

von Prof. Dr. Gerti Senger

Scham ist unvermeidlich und vernichtend. gerade deshalb wird sie tabuisiert und verformt.

Albert interessiert sich nicht für Politik. Er weiß nicht, wer welcher Minister ist, und verwechselt Demokratie mit Diktatur.

Als im die Eltern seiner Freundin eine politische Frage stellen, gibt er eine falsche Antwort. Die Eltern hacken freundlich nach, aber Albert redet noch mehr Unsinn. Jetzt steht er da. Er spürt, wie er rot wird, möchte in den Erdboden versinken. Scham überflutet ihn.

Liane möchte nicht zum alten Eisen gehören. Sie sieht immer noch gut aus, warum soll sie sich in der jugendlichen Kartenrunde, in der sie seit kurzem ist, nicht jünger machen. Der kleine Schwindel fliegt vor allen anderen auf. Jetzt geht Liane nicht mehr zu den wöchentlichen treffen, die ihr Leben so bereichert hatten. Sie schämt sich zu Tode.

Bei Schamgefühlen, wie sie Albert und Liane erlebt haben, geht es um einen Statusverlust gegenüber einem anderen Menschen. Der Schameffekt ist kurz und enthält sogar ein kreatives Wachstumspotential: Albert könnte sich ein bisschen mehr politischen Wissen aneignen, Liane könnte lernen, zu ihrem Alter zu stehen und ihrem sympatischen, freundlichen Wesen vertrauen.

In nahezu jeder Situation, in der Sie mit anderen in Kontakt sind, steckt die Gefahr, das etwas, was sie verbergen wollten, sichtbar wird.

Das kann eine reale oder vermeintliche körperliche Schwäche oder eine Eigenschaft sein. Der Katalog der Schamanlässe reicht von A wie Arbeitslosigkeit bis Z wie Zahnersatz.

 

Wer andere beschämt, spürt die eigene Scham nicht mehr

 

Die Sache mit dem Statusverlust wird übrigens von Studenten unbewusst als Mittel gegen Prüfungsangst praktiziert. Auch ich hab mir während meines Studiums einen besonders strengen Prüfer nackt vorgestellt. Schwabbelbauch, lächerliches Genital, klapperdürre Beine. Die nackte Jammerfigur verlor ihren Status als furchterregende Instanz wirklich.

Wenn wir noch weiter von Scham reden wollen, müssen wir auch von Verletzlichkeit und Beschämtwerden sprechen. Beschämtwerden kommt von außen durch andere Menschen. Nicht einmal, sondern andauernd.

Die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren fühlte sich wegen ihrer Armut beschämt, Elias Canetti wegen mangelnder Sprachkenntnisse, Andre Heller, weil er sich nirgendwo zugehörig fühlte.

Anhaltende Beschämungen sind später nicht mehr als das herkömmliche schmerzliche "Schämen" spürbar, sie kommen maskiert daher - als Rebellion, Schamlosigkeit, Machoverhalten, Arroganz, Zynismus, Kälte, Entfremdung, Wutneigung oder als Beschämung anderer. wenn ich andere beschäme, spüre ich meine eigene Scham und den damit verbundenen emotionalen Stress nicht mehr. Als Paartherapeutin habe ich mehr den je mit maskierter Scham zu tun.

Nicht mangelnde Liebe gefährdet Beziehungen und Partnerschaften, sondern Symptome einer maskierten Scham. Ein schamfreies Leben kann es nicht geben. Aber wenn wir einander unsere Grundbedürfnisse durch Anerkennung, Zugehörigkeit und Verbundenheit erfüllen, zärtlicher zu anderen und zu uns selber sind, kann Scham das sein, was sie nämlich auch ist: die Hüterin unseres inneren Kerns.